(German version follows below)
Dear Chancellor,
By taking over the reins of power in your great European country you should understand that you are also taking on a responsibility for 500 million Europeans. With one of the lowest unemployment rates in the European Union, an annualised growth rate of 2.8%, a high rate of job creation and a strong upturn in investment, people are beginning to talk of a real German economic miracle. Germany is undoubtedly consolidating its position as the premier European economic power.
This is why you will be obliged to take on the responsibilities incumbent on the leader of such an economic powerhouse: to agree to play to the full the political role that Europeans expect of your country, with growing impatience as the economic and social situation in Europe deteriorates. Germany has been more successful in dealing with the crisis, thanks to genuine structural reforms such as the flexibility of its labour market and permanent support for its industry. The austerity policies implemented throughout the euro area have so far brought only recession. The structural changes ruthlessly imposed on the countries of southern Europe have made people’s everyday lives more difficult without solving those countries’ debt problems.
You would be wrong to think, as some do, that the crisis is behind us. The problem is not just cyclical; the very foundations of our economies and of our social pact are in danger. A rise in company failures in Spain of more than 400% since 2007, sick Greeks with no access to healthcare, young people in Ireland and Lithuania who this autumn will – once again – be facing economic migration or despair.
You are certainly aware of the opportunity that the Europeans represent for Germany. Do not forget that one of the main reasons for the success of your economy is your healthy exports to the other Member States. What will your companies do when the Spanish, Greeks, Lithuanians and Portuguese are no longer able to be your economic partners? No-one would deny that there are sound reasons for pursuing budgetary discipline, but it must not become a blind dogma which enables some Member States to re-industrialise at the expense of the weakest.
The people of Europe cannot shoulder the entire responsibility for a disaster which originated in the excesses of the financial sector and the laisser-faire attitude of governments. We need to return to ethical principles. All the more so because of the growing inequalities engendered by the crisis between the «strong» and «weak» Member States, and also within European societies. According to the most recent data, 15% of the German population are living below the poverty line. If we want people to identify with the European project once again, it has to give priority to the human dimension.
You would also be wrong to underestimate the rising hostility, unacceptable but very real, towards your country. «We want a European Germany, not a German Europe», a southern European employers’ representative said to me the other day.
Chancellor, at the time of German unification, your country showed that it did not shirk its responsibilities, whatever the scale of the challenges. I am a great admirer of the Rhineland model, of the social market economy which made the rebirth of a democratic Germany possible, of Konrad Adenauer and Helmut Kohl, those giants of history with their humanist vision. At a time when some are trying to convince people in their countries that we can do better with less Europe, we must, on the contrary, stress the need to deepen European integration in order to respond more effectively to people’s expectations. The challenge which Europe is presenting you with today is of historic dimensions: relaunching the European Union, playing by the Community rules and rejecting the policy of «each man for himself».
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Offener Brief eines engagierten Europäers an den/die künftige(n) Bundeskanzler(in)
Sehr geehrte(r) Herr/Frau Bundeskanzler(in),
mit der Übernahme der Regierungsführung Ihres großen europäischen Landes übernehmen Sie auch eine Verantwortung gegenüber 500 Millionen europäischen Bürgerinnen und Bürgern. Mit einer Arbeitslosenquote, die zu den niedrigsten in der Europäischen Union gehört, einer jährlichen Wachstumsrate von 2,8%, die mit der Schaffung zahlreicher Arbeitsplätze und einer starken Wiederankurbelung der Investitionen einhergeht, ist hier und da sogar von einem wahren deutschen Wirtschaftswunder die Rede. Deutschland steht zweifelsfrei als die erste Wirtschaftsmacht in Europa dar.
Und gerade deshalb haben Sie keine andere Wahl, als sich der Verantwortung zu stellen, die dem Regierungschef einer solchen Wirtschaftsmacht obliegt: nämlich die politische Rolle voll und ganz auszufüllen, die man von einem solchen Land umso dringender erwartet, als sich die wirtschaftliche und soziale Lage in Europa verschlechtert. Deutschland war dank echter Strukturreformen wie der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und einer permanenten Förderung der Industrie besser für die Krise gewappnet. Der in der gesamten Eurozone eingeführte rigide Sparkurs hat bislang nur zu Rezession geführt. Die den Ländern Südeuropas skrupellos aufgezwungene Strukturanpassung hat das tägliche Leben der Menschen verschlimmert, ohne ihr Verschuldungsproblem zu lösen.
Es ist ein Irrglaube zu meinen, die Krise läge hinter uns. Es geht hier weniger um eine Frage der Konjunktur als um die Grundfeste unserer Volkswirtschaften und unseres Gesellschaftsvertrages. Seit 2007 hat die Zahl der Unternehmen, die in Spanien Insolvenz anmelden musste, um mehr als 400% zugenommen. Kranke Bürger in Griechenland haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung mehr und junge Menschen in Irland oder Litauen stehen nach der Sommerpause erneut vor der Alternative wirtschaftliche Emigration oder Verzweiflung…
Ihnen ist bewusst, welche Chance die Europäer für Deutschland darstellen. Und vergessen Sie bitte auch nicht, dass die Solidität der deutschen Exporte in andere Mitgliedstaaten einer der Hauptgründe für den Erfolg Ihrer Wirtschaft ist. Was wird aus den deutschen Unternehmen, wenn die spanischen, griechischen, litauischen und portugiesischen nicht mehr in der Lage sein werden, ihre Rolle als Wirtschaftspartner wahrzunehmen? Niemand bezweifelt die Sinnhaftigkeit einer grundsätzlichen Haushaltsdisziplin, doch darf sie nicht zu einem blinden Dogma werden, dank dessen sich einige Mitgliedstaaten auf Kosten der Schwächeren zu sanieren können.
Die Menschen in Europa können nicht die gesamte Verantwortung für ein Debakel übernehmen, das durch die Exzesse der Finanzwirtschaft und einer Laissez-faire-Haltung der öffentlichen Behörden ausgelöst wurde. Wir müssen uns wieder auf ethische Werte besinnen. Und dies umso mehr, als nicht nur die krisenbedingten Ungleichheiten zwischen den sogenannten starken und schwachen Mitgliedstaaten sondern auch innerhalb der jeweiligen Gesellschaft wachsen. Jüngsten Zahlen zufolge leben 15% der deutschen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Wenn sich die Bürgerinnen und Bürger wieder mit dem europäischen Projekt identifizieren sollen, dann muss der Mensch in den Vordergrund gerückt werden.
Es wäre ebenfalls falsch, das Aufkeimen der zwar inakzeptablen, aber gleichwohl realen feindseligen Reaktionen Ihrem Land gegenüber zu unterschätzen. «Wir möchten ein europäisches Deutschland und kein deutsches Europa» meinte unlängst ein führender Gewerkschafter aus Südeuropa.
Liebe(r) Herr/Frau Bundeskanzler(in), Ihr Land hat während der Wiedervereinigung bewiesen, dass es sich seiner Verantwortung stellt, egal welchen Ausmaßes die vor ihm liegenden Aufgaben waren. Für mich als großen Bewunderer des rheinischen Modells und der sozialen Marktwirtschaft, welche die Wiedergeburt eines demokratischen Deutschlands ermöglichte, verkörpern Konrad Adenauer und Helmut Kohl zwei herausragende Persönlichkeiten der Geschichte, die von einer humanistischen Vision getragen wurden! Auch wenn manch einer der Öffentlichkeit glauben macht, dass weniger Europa besser wäre, muss immer wieder betont werden, dass wir das europäische Einigungswerk unbedingt vertiefen müssen, um den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger besser gerecht zu werden. Die Herausforderung, vor die Sie Europa heute stellt, ist historischen Ausmaßes: Sie müssen der Europäischen Union neuen Schwung verleihen, indem Sie auf die gemeinschaftliche Karte setzen und einer Politik des «jeder für sich» abschwören.





















